Theodor Kramer Gesellschaft

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Maxim Trudoljubow
Die Rache der verdrängten Geschichte


Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Onlinemediums dekóder. Der Beitrag erschien am 24. März 2022 im russischen Exilmedium Meduza[1] und auf Deutsch.am 30.3.2022 auf dekóder[2] in der Übersetzung von Ruth Altenhofer und Jennie Seitz.

Maxim Trudoljubow, geb. 1970, ist ein russischer Journalist und Wissenschaftler. Zu den Schwerpunkten seiner Forschung gehören Religion, Architektur und politische Prozesse im gegenwärtigen Russland. Er publiziert regelmäßig Artikel in unabhängigen Medien und ist Mitglied der US-amerikanischen Forschungseinrichtung Kennan Institute. Trudoljubow ist Redakteur des Exilmediums Meduza. Das auf Russisch und Englisch berichtende Onlinemedium war von der ehemaligen Chefredakteurin von Lenta.ru, Galina Timtschenko, im Oktober 2014 als Exilmedium gegründet worden, nachdem wahrheitsgetreue Berichterstattung über den russischen Krieg gegen die Ukraine, der im Februar 2014 mit der Besetzung der Krim begonnen hatte, in Russland immer häufiger Repressionen durch die Geheimdienste zur Folge hatte. Meduza hat seinen Hauptsitz in Riga, Lettland und ist auf Spenden angewiesen: https://meduza.io/en
Dekóder wurde 2015 von Martin Krohs als gemeinnütziges Projekt gegründet und bedeutete ursprünglich "Russland entschlüsseln". Seit 2020 wird auch Belarus "entschlüsselt". Dekóder bildet die Debatten abseits der von den Diktatoren und ihren Geheimdiensten und DenunziantInnen kontrollierten und diskreditierten Medien ab. Die Idee zu dieser deutschsprachigen Internetplattform entstand angesichts der Erfahrung, dass einerseits demokratische Stimmen aus Russland und Belarus wie auch (selbst-)kritische Erkenntnisse aus der Osteuropaforschung in der westlichen Öffentlichkeit kaum Gehör fanden, ja mitunter gänzlich ignoriert wurden, und andererseits "ExpertInnen" auftraten, deren Expertise in der Kreml-Brille bestand, durch die sie die Ereignisse unserer Zeit sprachlich, "intellektuell" und politisch rahmten. Dekóder wirkt dank seiner Übersetzungsarbeit und seiner Innovation als Drehtür von Wissen und Solidarität: Zu den journalistischen Beiträgen erstellen WissenschaftlerInnen Gnosen, die das notwendige Hintergrundwissen bieten. Über Verlinkungen derselben sowie mit vorherigen Artikeln und deren Verlinkungen schreibt sich dekóder täglich neu fort und lässt sich wie eine Enzyklopädie lesen. Dekóder finanziert sich allein mit Hilfe von Spenden: https://www.dekóder.org/de/spenden
Auf der Homepage der Theodor Kramer Gesellschaft unter der Ausgabe von ZW 3/2023 können Sie den Beitrag von Maxim Trudoljubow mit allen Verweisen und der Verlinkung zum auf Meduza erschienenen Original in russischer Sprache finden. Hier, in der Print-Fassung, sind die Erläuterungen auf einige wenige beschränkt und gekürzt.

Die Rache der verdrängten Geschichte
Der Krieg gegen die Ukraine hat das Schlimmste freigesetzt, zu dem der russische Staat in seinem imperialen, sowjetischen und postsowjetischen Gewand fähig war. Dieser Krieg ist der zum Leben erwachte Schuldspruch, der alles in sich vereint, wovor die russische Gesellschaft nicht mehr die Augen verschließen kann.
Ihre Haltung dazu haben die Kreml-Machthaber mit der Verfolgung von Memorial[3] demonstriert: Memorial ist eine für die Zivilgesellschaft des neuen Russlands wegweisende NGO, die in vielerlei Hinsicht Vorreiter war beim Versuch der Gesellschaft, sich von der Last der Vergangenheit zu befreien. "Memorial erzeugt mithilfe von Spekulationen über politische Repressionen ein falsches Bild von der Sowjetunion als einem terroristischen Staat", äußerte bei den Verhandlungen einer der Staatsanwälte. "Warum sollen wir, die Nachfahren der Sieger, jetzt Reue zeigen, anstatt stolz auf unser Land zu sein, das den Faschismus besiegt hat?"

Die Zeit heilt keine Wunden
Wichtig an den Worten des Staatsanwalts ist nicht die typische Verdrehung der Tatsachen (Memorial sprach nicht von Reue, es plädierte für eine juristische Bewertung der Verbrechen), sondern der "Siegerkomplex": die Vorstellung, Macher des Sieges in einem Krieg gewesen zu sein, an dem sie selbst gar nicht beteiligt waren. In den Köpfen der russischen Führer musste dieser Krieg (in dem die Russen übrigens Seite an Seite mit Ukrainern und anderen Völkern kämpften) die anderen schrecklichen Kapitel der Vergangenheit irgendwie auslöschen – und zwar so, dass der russische Staat und die russische Gesellschaft das moralische Recht hätten, den Kopf oben zu halten.
Aber von der Vergangenheit distanzieren[4] wollte sich nicht nur die russische Machtelite. Der Großteil der russischen Gesellschaft wollte das auch.
Immer wieder tauchte in öffentlichen Debatten Intellektueller zu historischen Themen die Frage nach der Verjährungsfrist auf. Sie wurde unterschiedlich formuliert, diente aber stets demselben Zweck: die Schärfe der Debatte zu mildern. Ja, die Kommunistische Partei und ihre "Einsatztruppen" – die Geheimdienste – wurden nie in großem Stil verurteilt (bzw. gab es bloß einen Versuch, der jedoch missglückt ist). Aber es ist doch schon so lange her! Warum sollte man ein Volk, das ohnehin schon vom täglichen Kampf ums Überleben zermürbt ist, noch zusätzlich spalten? Das Land von damals existiert nicht mehr, es gibt jetzt ein anderes, das aufgebaut werden will – also muss man in die Zukunft blicken und nicht in der Vergangenheit wühlen. Schließlich gibt es in Russland Gedenkstätten für die Opfer des Terrors, es wird ihrer in Kirchen gedacht, Bücher werden über sie geschrieben und Filme gedreht, und es gibt sogar ein staatliches Museum zur Geschichte des Gulag.[5]
Diese Logik hat nun keinerlei Sinn mehr. Es hat sich gezeigt, dass die Zeit keine Wunden heilt. Man wird sich nicht nur vom Siegerkomplex des Kreml verabschieden müssen, sondern auch von anderen Einstellungen, die außerhalb des Kreml existieren und verhindern, dass man die eigene Vergangenheit in ihrer ganzen Schwere akzeptiert. Wir leben in einem riesigen Schrank voller Skelette, in einem Keller voller Leichen.

Verbrechen ohne Verjährung
Bis zum 24. Februar 2022 konnte man meinen, dass ein Grundpfeiler unserer Identität ein gerechter Krieg war: der Große Vaterländische Krieg. In einem Land, in dem Traditionen und Verbindungen zwischen Generationen und sozialen Gruppen immer wieder abgerissen wurden, war das Gedenken an den Krieg ein verbindender und einheitsstiftender Mythos.
Im Massenbewusstsein überwog die Geschichte des Krieges die Grausamkeit und den Zynismus anderer Kapitel der russischen Geschichte. Das ist nicht ungewöhnlich – die Menschen erinnern sich lieber an das Gute als an das Schlechte. Und Politiker ganz besonders: Viele Staaten legen in ihrer Erinnerungspolitik die Betonung auf die Siege und lenken die Aufmerksamkeit von den Niederlagen ab. Dabei gibt es in der Geschichte eines jeden Landes Niederlagen und schmachvolle Episoden. Jede Nation, jede Gesellschaft bewältigt den Schmerz der Vergangenheit auf ihre eigene Weise. Die russische Gesellschaft bewältigte die Schande durch das Gedenken an den Sieg im Zweiten Weltkrieg. Lange Jahre hat dieses Gedenken verhindert, dass wir unserer Vergangenheit ins Auge blicken. Der Albtraum, der jetzt geschieht, muss uns dazu bringen, es endlich zu tun.

In unserer Vergangenheit und Gegenwart werden Nachbarländer als Pufferzonen ohne Recht auf Souveränität behandelt. In unserer Vergangenheit und Gegenwart besteht die Bereitschaft, Gewalt gegen ganze Völker anzuwenden, wenn sie den Machthabern in Moskau illoyal erscheinen. Im Grunde handelt es sich um eine koloniale Politik gegenüber den Nachbarvölkern – und auch gegenüber dem eigenen.

In unserer Vergangenheit und Gegenwart werden Staaten und Menschen – eigene wie fremde – als Verbrauchsmaterial betrachtet. Um Methoden dafür war der russische – und besonders der sowjetische – Staat dabei nie verlegen.
In unserer Vergangenheit und Gegenwart hat sich die Macht exorbitante Befugnisse verschafft, eine nicht durch Gesetze und Institutionen eingeschränkte Macht. Im Russischen Reich gab es noch Geschworenengerichte und eine unabhängige Strafverteidigung – der sowjetische Staat entledigte sich dieser Rechtsinstitutionen als "bourgeoise Überbleibsel". Die sowjetischen Leader verfügten über eine "Legalität", die zunächst revolutionär und später sozialistisch war, das heißt, sie rechtfertigte jede Handlung, die für den Aufbau des Kommunismus zweckdienlich war. Dieses System hatte nichts mit dem Schutz von Rechten oder Gerechtigkeit zu tun. In unserer Vergangenheit und Gegenwart stellt man die Zweckdienlichkeit über das menschliche Leben.
Die Methoden, derer sich die Behörden bedienten, sind bekannt: Repressionen, inklusive außergerichtlicher Hinrichtungen, Gefangenschaft und Zwangsarbeit, die Eintreibung landwirtschaftlicher Produkte und Enteignungen, die zu Hunger und Tod führten. Nicht zu vergessen die militärische Aggression gegen Nachbarländer, Übergriffe auf Zivilpersonen, Geiselnahmen, Folter, die Verfolgung von Menschen aufgrund ethnischer Zugehörigkeit und die Deportation ganzer Volksgruppen.
Diese Methoden benutzte die Sowjetunion sowohl auf dem eigenen Territorium als auch bei der Eroberung der Länder Ost- und Mitteleuropas in den 1940er Jahren – zu Beginn des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach. Sie wurden in beiden Tschetschenienkriegen, in Georgien, in der Ostukraine und in Syrien angewendet – überall dort, wo Russland Gewalt ausübte. Dazu gehören zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die keine Verjährungsfrist haben. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zu lesen, das diese Verbrechen ausführlich behandelt.
Nicht nur in der Ukraine, gegen die Russland einen Angriffskrieg führt, sondern auch in Ungarn, in Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, in Estland, Finnland, in Tschechien und anderen Ländern, die in ihrer Geschichte auf die eine oder andere Art ihre Erfahrungen mit Russland gemacht haben, spricht man über die vergangenen Verbrechen des russischen Staates so, als ob sie erst gestern begangen worden seien. Die Mehrheit dieser Länder nimmt heute Flüchtlinge aus der Ukraine auf. Egal, wie die Kampfhandlungen ausgehen – vergessen wird nichts.

Methoden ohne Ziele
Jetzt kann kein Bürger, keine Bürgerin Russlands, kein einziger Mensch, der sich als Russe bezeichnet, mehr so tun, als wäre die Vergangenheit bloßer Gegenstand akademischer oder publizistischer Auseinandersetzungen. Die Vergangenheit wird gerade auf ukrainischem Boden reproduziert. Dass die Verbrechen des russischen Staates keiner rechtlichen Bewertung unterzogen und von keinem Gericht verurteilt wurden, hat den heutigen Krieg ermöglicht. Ermöglicht hat ihn das ungestrafte Davonkommen der Führer des russischen Staates.
Die, die jetzt im Namen Russlands Entscheidungen treffen, haben weder große Ziele noch verfügen sie über ein Wissen absoluter Wahrheiten, sie haben weder ideologische oder göttliche Legitimität, die sie so gerne simulieren. Das Einzige, wodurch sie die längst verlorene "große Idee" – ob von einem Großreich oder vom Kommunismus – erfolgreich ersetzt haben, ist die Lüge. Die Organisatoren des Kriegs gegen die Ukraine haben beschlossen, dass ihnen zur Legitimierung des Krieges Inszenierungen und Fiktionen reichen.
Möglicherweise hat Putin seiner eigenen Propaganda geglaubt und stützt sein Vorgehen auf die Pseudorealität, die Propagandisten in seinem Auftrag erdacht haben. Aber in Wirklichkeit ist es gar nicht so wichtig, ob er an etwas glaubt oder nicht. Jedenfalls sehen wir, dass russische Beamte und Militärs ihr Vorgehen mithilfe primitiver Desinformation zu rechtfertigen versuchen, indem sie behaupten, die sterbenden Gebärenden seien Schauspielerinnen, in den Krankenhäusern würden sich Nationalisten verschanzen, und die ganze Ukraine werde von Nazis regiert.
Das heutige Russland hat als politisches Gebilde nur Lügen und Methoden zu bieten, die es von den Tschekisten und von Stalin geerbt hat. Die Methoden sind immer dieselben, nur wird jetzt nicht einmal mehr versucht, sie mit einem dekorativen ideologischen Schein zu rechtfertigen. Der russische Staat ähnelt unterdessen einem Zombie – ein Körper ohne Seele, der alles auf seinem Weg zermalmt und nicht einmal versteht, wozu er das tut.
"Ist die Vernichtung des Menschen mithilfe des Staates nicht die zentrale Frage unserer Zeit, unserer Moral?", schrieb Warlam Schalamow[6]. Ja, sie ist die zentrale Frage. Und je mehr Russen und Menschen, die sich als Russen begreifen, sich dessen bewusst werden, umso rascher wird der russische Staat für seine Verbrechen vor Gericht stehen. Ohne ein solches Gericht kann Russland weder seinen Bewohnern ein vollwertiges Zuhause bieten, noch kann es eine politische Entität werden, mit der ein vertrauensvoller Dialog möglich ist. Wenn die nationale und kulturelle Gemeinschaft mit dem Namen "Russland" wieder ein Teil der Welt werden will, dann muss die erste neue Institution, die nach dem Krieg geschaffen wird, ein Gericht über die Verbrechen des russischen Staates sein – in all ihren Ausprägungen, in der Vergangenheit und der Gegenwart.
Es darf nicht mehr die Logik der Verjährung gelten, die argumentiert, dass die Verbrecher nicht mehr am Leben seien und es kaum mehr lebende Zeugen gebe, also wen wolle man jetzt anklagen. Doch finden sich da welche. Diejenigen, die entschieden haben, die Ukraine anzugreifen, wären für diese Rolle durchaus geeignet. Das Gericht muss unabhängig vom Staat sein, sonst hat der Prozess keinen Sinn. Vor 30 Jahren ist ein Verfahren gegen die KPdSU gerade deshalb gescheitert, weil die Verfassungsrichter eben noch selbst Parteimitglieder gewesen waren und das Rechtsorgan von den staatlichen Strukturen nicht sauber getrennt war.
Wenn es der russischen Gesellschaft nach dem Krieg – erstmals in seiner Geschichte – gelingt, ein wirklich unabhängiges Gericht zu installieren, dann wird sie sich und dem Rest der Welt damit beweisen, dass es in Russland überhaupt eine Gesellschaft gibt. Das wichtigste Anzeichen dafür, dass es in Russland eine Gesellschaft gibt, wird dann genau das sein: Die Existenz als handelndes Subjekt, die eine rechtliche Bewertung von Handlungen des Staates und seiner Führer erlaubt. Wenn das gelingt, dann schaffen es die Russen vielleicht auch, andere Institutionen aufzubauen.
Man wird dabei wohl mit Institutionen beginnen müssen, die die Gewalt des Staates gegen den Menschen, gegen das eigene Volk sowie andere Nationen verhindern. Man wird dafür sorgen müssen, dass nie wieder jemand an die Macht kommt, der in Kategorien wie "einiges Volk", "gemeinsames Schicksal", "große Geschichte" und ähnlichen grandiosen Verallgemeinerungen auch nur denkt. Und natürlich dürfen Politiker in der Zukunft keine Möglichkeit haben, Kriege zu führen, die auf ihren Fantasien beruhen. Ihnen müssen die Hände gebunden sein.
Das wird in einem Land, in dem Institutionen, Gesetze[7] und sogar das Bildungssystem immer im Interesse einer zentralistischen Regierung und nicht im Interesse der Menschen gehandelt haben, extrem schwer werden. In einem Land, in dem die soziale Ordnung immer zur Rechtfertigung von Gewalt herangezogen wurde. Der Erfolg dieses schwierigen Unterfangens ist alles andere als garantiert, aber ohne ihn hat Russland keine Zukunft.

 

Anmerkungen

  1. ^https://meduza.io/feature/2022/03/24/my-zhivem-v-shkafu-nabitom-skeletami
  2. ^https://www.dekoder.org/de/article/krieg-ukraine-erinnerung-aufarbeitung-vergangenheit
  3. ^dekóder: Manuela Putz, Gnose zu Memorial: Moskau 1988. Ein hageres Gesicht, zur Hälfte Totenkopf, prangt von einem grellroten Plakat. Dazu eine Nummer: ¹ 700454. Dahinter verbirgt sich ein Spendenkonto, das Plakat ruft dazu auf, ein 'Denkmal für die Opfer ungesetzlicher Repressionen' zu errichten. Initiiert wird diese für die Sowjetunion ungewöhnliche Aktion 1987–1988 von AktivistInnen, die bald unter dem klingenden Namen Memorial (lat. Andenken) firmieren sollen. In der Zeit der Perestroika werden ihre Rufe nach Aufarbeitung der politischen Repressionen, insbesondere unter Stalins Herrschaft, immer lauter. Das Schweigen soll durchbrochen werden und an die Millionen Opfer erinnert werden, die im Arbeitslagersystem Gulag inhaftiert waren, zwangsumgesiedelt wurden und dort den Kälte- oder Hungertod gestorben sind oder auf dem Höhepunkt des Massenterrors 1937-38 erschossen wurden. [...] Am 28. Dezember 2021 ordnete das Oberste Gericht die Auflösung von Memorial an.
  4. ^"Der Geschichte sind die Augen verbunden", dekóder, 3.8.2018: Das Leben der Angehörigen von Opfern des Großen Terrors war geprägt von dem oft unbegreiflichen Verschwinden ihrer Nächsten. [...] "Wir lebten mitten in der Stadt, direkt vor dem Haus war eine Bushaltestelle. Wenn man morgens aus dem Haus ging, gab es da nur Heulen und Tränen. Die Menschen gingen zur Arbeit und weinten laut. Bei allen ist jemand geholt worden. [...] Ich glaube, sie haben damals nach 'Parasiten' gesucht, aber mitgenommen haben sie unschuldige Menschen. [...] Meine Mutter hat erzählt, dass sie alle Männer aus unserem Dorf geholt haben, alle bis auf den Stallknecht Jascha [...] Ohne Mann hatte es meine Mutter sehr schwer. Sie wurde zur Holzverarbeitung geschickt, meine Schwester und ich waren den ganzen Winter über alleine, da war sie elf und ich acht. Zur Schule bin ich in Soldatenstiefeln gegangen, die ich bei uns im Haus gefunden hatte. Einmal hat meine Mutter darum gebeten, dass man ihr etwas Stoff gibt, damit sie Sachen für uns nähen kann. Da hörte sie: 'Halt den Mund. Weißt du, wo dein Mann ist? Da kommst du sonst auch hin.' [...] Großmutter hat nie wieder geheiratet, sie hat immer gesagt, so einen wie ihren Wanetschka würde sie nicht noch einmal finden. Aber darüber zu sprechen hatten wir Angst, das ganze Leben lang hatten wir Angst davor und wenn ich sie bat: 'Oma, lass uns doch versuchen, ihn zu finden', sagte sie: 'Lass ruhen. Ich fürchte mich vor diesen Zeiten.'" - Verlinkung zum Artikel von Schura Burtin "Die Geister der Vergangenheit" vom 30.5.2017 mit einem Update vom 27.12.2021 über den 1956 geborenen russischen Publizisten und Lokalhistoriker Juri Dmitrijew, der Sandarmoch, eines der größten Massengräber des Stalinistischen Terrors, entdeckte, ihm und über siebentausend Opfern Namen gab: "[N]iemand in Russland hat so viel ausgegraben wie er. Er schuf Geschichte, die es vor ihm nicht gegeben hat [...] plötzlich, nach zwanzig Jahren, finden die Bürger heraus, dass sie umgeben sind von Gräbern voller Erschießungsopfer.. [...] Es liegen dort Massen von Ukrainern, Polen, Finnen, Georgiern, Aserbaidschanern, Tataren, Wainachen begraben, sogar Schweden und Norweger. [...] 'Er hat uns beigebracht, welche Fragen man stellt. Man darf nicht nach den konkreten Ereignissen fragen, sondern zum Beispiel: Welche Stellen werden hier gemieden? Vor welchen Orten haben die Menschen Angst?' [...] Der Heimatkundler Dmitrijew stieß auch auf die Erschießungsgruben von Sekirnaja Gora, einem Vernichtungsort des Solowezki-Lagers, "einem der schrecklichsten Orte der Menschheitsgeschichte. [...] Bei der Ankunft wurde der Häftling komplett entkleidet, sämtlicher persönlicher Gegenstände entledigt und in einen Kittel aus Leinsäcken gesteckt. Zu Essen gab es auf Sekirnaja Gora so gut wie nichts – 300 Gramm von irgendeinem Moder, der in den umgeschlagenen Kittelsaum gekippt wurde. Den ganzen Tag mussten die Skeletten gleichen, schmutzigen, halbtoten Menschen auf speziellen Sitzstangen ausharren, die so angebracht waren, dass die Füße kaum bis zum Boden reichten, und durften sich nicht rühren. Im Winter bei grausamster Kälte, im Sommer übersät von Tausenden von Mücken. [...] Geschlafen wurde auf dem reifbedeckten Steinboden, zusammengedrängt zu sogenannten "Wärmegruppen" (die Beine des einen geschlungen um den Hals des nächsten), oder in drei Reihen übereinander gestapelt, immer abwechselnd. Jede Nacht starb jemand aus der untersten Reihe, die Aufseher zogen die Leichen heraus, und die Häftlinge, völlig von Sinnen, hinderten sie daran – aus Angst, sich auf den Steinboden legen zu müssen. [...] Länger als zwei Monate überlebte dort niemand." Inzwischen hat das offizielle Russland seine "Wahrheit" unter die Leute gebracht: Am Anfang "vermutete" der Professor Juri Kilin an der Universität von Petrosawodsk, Sandarmoch berge auch die Überreste sowjetischer Kriegsgefangener, die von Finnen erschossen worden seien. "Eine krude Logik. Aber die These hat gefruchtet. Und wenn es im ersten Stadium eine bloße Vermutung war, dann war es im dritten und vierten schon eine Feststellung, und im fünften – eine Negierung der Tatsache, dass es überhaupt irgendwelche Repressionen gegeben hat: 'Ach so ist das, Memorial macht so einen Wind, dass es die eigenen Leute waren, und in Wirklichkeit waren's die irren Deutschen!'" Der Artikel von Schura Burtin geht auch auf die fingierte Anklage gegen Dmitrijew ein. "Im November [2016] veröffentlichte Memorial die aufsehenerregenden sogenannten Henkerslisten mit den Namen von NKWD-Mitarbeitern, die unmittelbar am Großen Terror beteiligt waren." Dmitrijew, Leiter von Memorial Karelien, erhielt anonyme Anrufe, wiewohl er an der Erstellung der Listen nicht beteiligt war. [...] Das Gutachten darüber, ob [Dmitrijews] Aufnahmen als pornographisch zu werten sind, bestellte die Ermittlungsbehörde beim Zentrum für soziokulturelle Expertisen, einer 'unabhängigen gemeinnützigen Organisation'. Dabei handelt es sich um eine bekannte Firma, die in industriellen Mengen Gutachten produziert, die vom Zentrum E und dem FSB in Auftrag gegeben werden. Zu ihren jüngsten Werken gehören: Die 'Verletzung religiöser Gefühle von Gläubigen' im Torfjanka-Park und die Aufdeckung der extremistischen Natur der Zeugen Jehovas. Vier Experten sind dort zugange: ein Kunsthistoriker, ein Mathe-Lehrer, ein Politikwissenschaftler und ein Englisch-Übersetzer. Diese Leute wurden bereits der Aneignung gefälschter akademischer Grade überführt, der direkten Unterschiebung (sie schrieben Dinge in die zu analysierenden Texte, die dort nicht standen) und natürlich der massenhaften Erstellung von Gutachten zu Themen, von denen sie keine Ahnung haben. Berühmtheit erlangte das Zentrum dadurch, dass es eine Bibel, die man den Zeugen Jehovas abgenommen hatte, als extremistische Literatur einstufte. Nach Meinung dieser Experten sei eine 'Bibel, als Buch begriffen, nicht mehr die Bibel, Dazu wird sie einzig und allein in der Kirche'." Juri Dmitrijew, einst selbst Heimkind, hatte mit seiner zweiten Frau ein dreijähriges Mädchen als Pflegekind aufgenommen, das im Heim grobe Verwahrlosung erlebt hatte. Das Kind hängt ganz besonders an ihrem Pflegevater. Der Ermittlungsrichter hat verfügt, dass weder er noch seine Verwandten mit dem Mädchen sprechen dürfen.Im Dezember 2021 wurde Juri Dmitrijew zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt.
  5. ^dekóder: Der Begriff Gulag steht im weitesten Sinne für das sowjetische Lagersystem und damit für den Terror und den Repressionsapparat, den die kommunistische Partei der Sowjetunion zum Erhalt ihrer Macht aufbaute. GULag ist die Abkürzung für Hauptverwaltung der Erziehungs- und Arbeitslager.
  6. ^dekóder: Warlam Schalamow (1907–1982) war ein russischer Schriftsteller und Dissident. Nach seiner Verhaftung 1929 wegen konspirativer oppositioneller Tätigkeiten wurde er verurteilt zu dreijähriger Strafarbeit im Arbeitslager mit anschließender fünfjähriger Verbannung in den Norden Russlands. 1937 wurde Schalamow erneut zu Zwangsarbeit verurteilt. Nach seiner Freilassung 1951 entstehen die heimlich verfassten Erzählungen aus Kolyma, die 1971 in Deutschland und Frankreich publiziert werden. Darin verarbeitet er seine Erfahrungen in den sowjetischen Arbeitslagern. Die Erzählungen aus Kolyma gehören heute zu den wichtigsten Werken über das Leben im sowjetischen Gulag. Mehr dazu in einer Gnose auf dekóder.
  7. ^dekóder: Im Rule of Law Index 2019 des World Justice Project findet sich Russland auf Rang 88 von 126 Staaten. Bei Menschenrechten ist das Land punktgleich mit Sambia und Tansania auf Platz 104, in der Kategorie "Bindung von Regierung und Staat an Recht und Gesetz" steht Russland auf Rang 112, punktgleich mit Honduras. Seit dem Amtsantritt Putins im Jahr 2000 schlägt das Pendel der Bewertung von Recht und Rechtsstaat in Russland zurück ins Negative. Mehr dazu in einer Gnose auf dekóder.