Theodor Kramer Gesellschaft

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Petro Rychlo
Reisebilder aus dem verschollenen Niemandsland
Marc Sagnol. Galizien und Lodomerien. Eine Spurensuche

Der Titel des Buches des französischen Schriftstellers und Kulturphilosophen Marc Sagnol, der vor allem durch seine Arbeiten über Walter Benjamin, Franz Kafka, Bruno Schulz und Paul Celan bekannt ist, klingt beinahe märchenhaft: „Galizien und Lodomerien“. Er ruft in unser Gedächtnis zuerst Assoziationen an mythische Königtümer wie Shakespeares „Böhmen am Meer“ oder Rezzoris „Maghrebinien“. Doch der Begriff „Galizien und Lodomerien“ ist kein utopisches Konstrukt, so hieß in der Tat ein reales Land – das östlichste Kronland des Habsburgerreiches, das im Jahre 1772, nach der ersten Teilung Polens, der k. u. k.-Monarchie einverleibt wurde. Etymologisch ist der erste Teil dieser verbalen Kombination – Galizien – vom Namen des mittelalterlichen ostslawischen Fürstentums Halicz (Halycz, Galicz) abgeleitet, dessen Vorherrscher Danilo (Danylo) 1253 von dem Papst Innozenz IV. als König gekrönt wurde. Der zweite Teil dieser merkwürdigen Wortverbindung – Lodomerien – ist eine österreichische Umformung des Namens „Wolodymeria“, wie die Region Wolhynien in bürokratischen Akten des Wiener kaiserlichen Hofs hieß. Er entstand durch die Kürzung der ersten Silbe des historischen Namens.
Wollte man die Gattungsart des Buches definieren, so würde man es am ehesten zwischen Reisebildern und Erinnerungen platzieren. Die Zahl solcher Reisebeschreibungen ist inzwischen beinahe unübersichtlich geworden und wird durch das historische, kulturelle oder touristische Interesse an Osteuropa immer größer. Viel Beachtung fanden seinerzeit z. B. die imaginären Reisebeschreibungen Galiziens von Martin Pollack[1] oder die Reisebilder Galiziens und der Bukowina von Verena Dohrn[2], welche den näheren Einblick in diese entferntesten Regionen der ehemaligen k. u. k.-Monarchie den westlichen Lesern gewährten, die jahrzehntelang von ihnen durch den „Eisernen Vorhang“ getrennt waren.
Das Buch Marc Sagnols unterscheidet sich von anderen Reisebeschreibungen vor allem durch seine besondere Zielsetzung. Es wird im Untertitel als „eine Spurensuche“ bezeichnet und überträgt damit den Akzent von der gelegentlichen Erkundung des erwähnten Landstrichs auf seine tiefere Erforschung mit Hinblick auf die jüdische Geschichte kleinerer und größerer galizischer Orte, in denen einstmals jüdisches Leben blühte, das später, infolge der Katastrophe der Shoah, unwiederbringlich ausgelöscht wurde.
Bereits am Anfang seines Buches will der Autor seine persönlichen Reiseeindrücke und Erinnerungen an diese osteuropäische Landschaft in einem breiteren Rahmen sehen, der „mehr ist als ein individuelles Gedächtnis, eher das Gedächtnis einer Generation, vielleicht sogar jenes potentielle Gedächtnis, von dem Perec spricht“ (S. 7). Er veranschaulicht dann diese These mit Georges Perecs Zitat: „Fern von uns in Raum und Zeit gehört dieser Ort für uns zu einem potentiellen Gedächtnis, zu einer möglichen Autobiographie“.
Das autobiographische Element spielt in diesem Falle für Marc Sagnol eine Schlüsselrolle, da seine Reisen nach Galizien (es handelt sich um mehrere Besuche im Laufe vieler Jahre) vor allem einen familiären Hintergrund hatten: sein Urgroßvater Abraham Schreiber stammt aus Kossow (heute Kossiw), einem kleinen Kurbad am Vorfuße der Karpaten, das noch vor dem Beginn des Zweiten Krieges über 80% Juden als Einwohner zählte und eine der Wiegen des Chassidismus war – hier begann Israel ben Elieser, genannt Baal Schem Tow, seine Tätigkeit. Sagnols Großvater besuchte im naheliegenden Städtchen Wijnitz die berühmte Jeschiwa, und der Vater seiner damaligen Freundin Samuel Hamersztajn hatte bis zum Zweiten Weltkrieg in Lwów (heute Lwiw), der größten Stadt Ostgaliziens, gelebt. 1941 trat er der Roten Armee bei und überlebte als einziger seiner Familie den Holocaust. Doch waren all diese Orte für den Autor bis zur Auflösung der Sowjetunion gesperrt. Erst ab den 1990er Jahren konnte er sie dann mehrmals besuchen und alles dort Gesehene und Erlebte beschreiben.
Einzelne Essays des Buches wurden bereits früher in verschiedenen französischen,f polnischen und ukrainischen Zeitschriften und Sammelbänden publiziert, hier werden sie zum ersten Mal in monographischer Form dargeboten. Strukturell ist das Buch in drei Kapitel aufgeteilt: „Galizien und Lodomerien“, „Czernowitz bei Sadagora“ und „Rückkehr nach Leopolis“. Das zweite Kapitel, das Czernowitz und der Bukowina gewidmet ist, findet seine Rechtfertigung darin, dass die Bukowina eine Zeitlang, nämlich von 1786 bis 1848, ein Bestandteil des Königtums Galizien und Lodomerien (als Distrikt Bukowina) war und somit eine administrative Einheit mit ihm bildete.
Obwohl aus dem Buchtitel selbst nicht ersichtlich ist, welche Aspekte des facettenreichen Lebens Galiziens in den Vordergrund gerückt werden, stellt sich beim Lesen bald heraus, dass das Zentralinteresse Sagnols den immer wieder besuchten Orten der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Galiziens im Holocaust und somit der vollständigen Zerstörung ihrer existenziellen Grundlage und ihrer kulturellen Eigentümlichkeit gilt. Nur eine einzige Stadt bildet hier eine Ausnahme – Grodek, deren Synagoge unauffindbar blieb. Ein einfühlsamer Essay über dieses Städtchen steht völlig unter dem traurigen Stern Georg Trakls, der hier sein gleichnamiges Gedicht „Grodek“, eine Art „lyrisches Testament“ schrieb. Davon zeugt heute eine kleine Gedenktafel mit dem Profil des Dichters, die an der alten Feldambulanz angebracht ist, wo der Dichter während des Ersten Weltkrieges als Sanitäter der k. u. k.-Armee die Schmerzen der schwerverwundeten Soldaten zu stillen versuchte, bevor er dann, selbst verwundet, an einer Überdosis Kokain in einem Krakauer Lazarett starb.
Alle anderen Orte, die der Autor bereist, sind ihm in erster Linie durch ihre jüdische Geschichte wichtig – durch untrügliche Spuren jüdischer Existenz in Laufe von Jahrhunderten. Mit ihren Synagogen, Betstuben, Lehrhäusern, Friedhöfen, Gräbern; mit ihren religiösen Traditionen und Ritualen, heiligen Büchern und sakralen Objekten; mit Ihren Geschlechterfolgern, Familiengeschichten, Rabbinerdynastien und berühmten Schriftgelehrten. Über zwanzig Städte Galiziens und der Bukowina sind hier vorgestellt: Lemberg (Lwiw), Żolkiew (Schovkva), Bels, Sambor, Brzeżany (Bereshany), Podhaice, Stryj, Bolechów, Drohobycz, Buczacz, Czortkiw, Stanislau (heute Iwano-Frankiwsk), Horodenka, Brody, Strussiw, Ternopil, Kossiv, Wyjnitz, Czernowitz, Sadagora. Jede dieser Städte und Städtchen besaß einmal eine blühende jüdische Gemeinde, hatte ihre eigene Physiognomie, ihr einzigartiges kulturelles Profil gehabt, was nicht selten durch die starke Präsenz der Juden erklärbar war, die in vielen von ihnen prozentuell mehr als die Hälfte der Bevölkerungszahl ausmachten. Sie haben zu der Entstehung einer schöpferischen multikulturellen Atmosphäre beigetragen, die bedeutende Talente in verschiedenen Sphären hervorbrachte – Künstler, Musiker, Dichter, deren Werke bis heute einen wertvollen Fundus der Weltkultur bilden.
Sagnols Reiseschilderungen stützen sich dabei auf tiefgehende Recherchen und nennen Dutzende Namen von jüdischen Autoren, die in diesen heute westukrainischen Regionen geboren wurden oder eine längere Zeit gelebt und in verschiedenen hier vertretenen Sprachen geschrieben haben, so auf Polnisch wie Bruno Schulz, Jozef Wittlin, Julian Stryjkowski, Andrzej Kuśniewicz, Zbigniew Herbert, Stanislaw Lem oder Artur Sandauer, auf Deutsch wie Natan Samueli, Karl Emil Franzos, Joseph Roth, Soma Morgenstern, Alexander Granach, Manès Sperber, Rose Ausländer oder Paul Celan, auf Jiddisch wie Debora Vogel, Itzig Manger oder Josef Burg, auf Hebräisch wie Samuel Josef Agnon oder Aharon Appelfeld. Dazu kommen noch Beschreibungen und Zeugnisse von nichtjüdischen Autoren, die diese Länder gelegentlich besucht oder sich dort heimisch gefühlt haben – von den frühen Erkundungen des französischen Wanderers François-Paulin Dalairac, der Ende des 17. Jahrhunderts diese Regionen bereist und sie in seinen „Anecdotes de Pologne“ ausdrucksvoll beschrieben hatte, dem jiddischen Klassiker Scholom Alejchem, der auf seinem Weg nach Amerika eine Zeitlang in Galizien weilte, dem legendären Chronisten des Ersten Weltkrieges und der revolutionären Umwälzungen in Russland Isaak Babel – bis zum gebürtigen Lemberger, dem skandalumwitterten Leopold Sacher-Masoch und dem aus Czernowitz stammenden Weltbummler und Kosmopoliten Gregor von Rezzori.
Manche Werke dieser Schriftsteller finden Erwähnung in Sagnols Buch, sie werden hier reichlich zitiert und kommentiert, und so bekommen seine Essays den Charakter einer spannenden intellektuellen Lektüre, die weit hinaus über platte Reiseschilderungen führen und angeregte, gut fundierte kulturologische Forschungen darstellen, die außerdem auf zahlreichen authentischen Quellen beruhen und mit ausführlichen Fußnoten versehen sind. Zugleich werden diese Texte von einer reichen, bildhaften, einfühlsamen Sprache getragen, die mit höchster stilistischer Präzision und Sorgfältigkeit ausgefeilt ist. „Marc Sagnol ist nicht der erste – schreibt Wolf Lepenies –, der seit dem Epochenumbruch von 1989 Galizien als Kernregion der jüdisch-mittel- und osteuropäischen Kultur wiederentdeckt hat. Was ihn vor anderen auszeichnet, ist seine minutiöse, emphatische Beschreibungskunst, die auf unmittelbarer Anschauung beruht – und sich zugleich mit analytischer Tiefenschärfe koppelt. Verstärkt wird das Ganze durch familiäre Nähe zum Untersuchungsgegenstand und eine eindrucksvolle Sprachkenntnis. Und nicht zuletzt gehören dazu eine stilistische Sicherheit und ein sprachliches Feingefühl, die ihn von vielen Autoren, die sich mit Galizien befassen, auszeichnen.“[3] Dieser treffenden Charakteristik kann man sich durchaus anschließen. Zu den zweifellosen Stärken des Buches gehören auch ausdrucksvolle schwarzweiße Fotos, die vom Autor selbst stammen (Sagnol hat sich übrigens auch als Filmregisseur profiliert – sein Dokumentarfilm über Transnistrien „Les eaux du Boug“ / „Die Wasser des Bug“ wurde in einigen europäischen Metropolen mit Erfolg aufgeführt).
Es gibt aber in diesem Buch auch etwas, was mich beim Lesen immer wieder stört – eine durchgehende, explizit ausgedrückte antiukrainische Position des Autors, seine nicht verhehlte Abneigung gegen alles Ukrainische, sowohl geschichtlich, als auch politisch und kulturell. Der Stein des Anstoßes liegt auf der Hand – das ist die angeblich fast angeborene antisemitische Einstellung der Ukrainer gegen die Juden – ein Mythos der sowjetischen Propaganda, der leider auch heute noch in Russland oder unter den russischsprachigen Juden in Israel lebendig ist. Die zeitweilig reale, in vielen Fällen jedoch auch nur vermeintliche Kollaboration der ukrainischen Bevölkerung mit den deutschen Nazis während des Zweiten Weltkrieges bildet in Sagnols Buch einen besonderen Schwerpunkt. Daraus resultieren permanente, geradezu leitmotivisch gewordene Vorwürfe gegen die Ukrainer, die oft nur als extreme Nationalisten und Helfershelfer der Nazis dargestellt werden. So sieht der Autor in Lwiw eine Gedenktafel, die an die „Proklamation des pro-nazistischen ukrainischen Staats vom 30. Juni 1941“ erinnert und die Erfolge der deutschen Wehrmacht und ihres ukrainischen Bataillons „Nachtigall“ feiert (S. 40); bei der Ausstellung in einem kleinen landeskundlichem Museum in Brzeżany (Bereżany) geht es hauptsächlich um die „unvermeidliche Glorifizierung der nationalistischen Milizen von Petljura und Bandera“ (S. 59); in Stryj kommt er zur Einsicht, Stepan Bandera stehe jetzt „für einen Helden, der in Kiew und der gesamten Ukraine verehrt wird und in dessen Namen man begonnen hat, die russischsprachige Bevölkerung des Donbass zu terrorisieren“ (S. 69); in der Exposition des regionalgeschichtlichen Museums von Truskawiec werde absichtlich verschwiegen, dass „unter den Mördern und den Hilfstruppen der Gestapo speziell von den Deutschen ausgebildete ukrainische Milizionäre waren“ (S. 93); in Jesseniv, nicht weit von Brody, wurde ein Ehrenmal für die SS-Division „Galizien“ aufgestellt, und „keine internationale Institution war in der Lage, es zu verhindern“ (S. 124); am Ortseingang von Kossow (Kossiw) wird man „von einer doppelten Beflaggung empfangen: der offiziellen blau-gelben Fahne der Ukraine und der schwarz-roten Flagge der UPA (Ukrainische Aufstandsarmee), deren Farbsymbolik auf die nazistische „Blut- und Boden“-Ideologie anspielt. Wie in vielen Städten der Region gehört der Bürgermeister von Kossow der weit rechtsstehenden Partei „Swoboda“ an“ (S. 140) und usw. Überall sieht er nur solche belastende Zeichen, die die Ukrainer als radikale Nationalisten und „Faschisten“ zu erkennen geben.
Wenn Sagnol von den Sprachen berichtet, die heute in Lwiw gesprochen werden, – das sind Ukrainisch, Russisch und Polnisch – so stellt er mit Bedauern fest: „Von diesen dreien ist das Ukrainische die beherrschende und das Russische die unterdrückte Sprache“ (S. 39). Die „radikale Ukrainisierung“ in Czernowitz „soll vergessen machen, dass die Stadt einst drei-, wenn nicht viersprachig war“ (S. 170). Im größeren Essay „Rückkehr nach Leopolis“ geht es über das polnische Lwów der Zwischenkriegszeit. An einer Stelle beschreibt der Autor den eleganten Lebensstil der damaligen Stadtbürger und bemerkt dazu: „Niemand hätte sich zu dieser Zeit ausmalen können, dass die Stadt ukrainisch werden könnte, und wäre die Rote Armee nicht zweimal, 1939 und dann noch einmal 1944, in Lwów einmarschiert, dann hätten die Ukrainer niemals die Kontrolle über diese polnische Stadt übernehmen können“ (S. 188). Daraus folgt schlussendlich, dass die Ukrainer selbst unfähig seien, ihren eigenen Staat zu bilden, ja sogar eine einzige Stadt erfolgreich zu führen, sie sind doch, wie die Putinsche Propaganda behauptet, eine „künstlich“ von Österreichern geschaffene Nation, die offensichtlich nur unter einer fremden, bevorzugt russischen Führung existieren kann.
Nicht weniger verwundert auch die nächste Passage wenn der Autor an der Wand eines Lwiwer Kaffeehauses die Signatur „Tov. klub rusynok u Lvovi“ (Verein „Klub ruthenischer Frauen von Lwiw“) sieht und daraus eine merkwürdige Schlussfolgerung zieht, „dass selbst in Galizien das Russische und das Ukrainische als gleichberechtigte Sprachen der ruthenischen Bevölkerung betrachtet wurden und die heutige Sprachpolitik, die das Russische unterdrückt und es als „Fremdsprache“ behandelt, ganz und gar willkürlich ist“ (S. 201). Offensichtlich verwechselt der Autor hier die Begriffe „ruthenisch“ (die ältere, in der k. u. k.-Monarchie geläufige Bezeichnung für ukrainisch) und „russisch“. Als nächste drängt sich eine begründete Frage auf: wieso sprechen die ukrainischen Frauen in Lwiw der 1920er Jahre auf einmal Russisch? Und woher kommt seine These von der ständigen Unterdrückung der russischen Sprache in der Ukraine? Sie ist doch bekanntlich für Russland einer der Gründe gewesen, die Ukraine zu überfallen, um die „russischsprachige Bevölkerung“ vor den ukrainischen „Faschisten“ zu schützen.
Solche und ähnliche Passagen lese ich mit gemischten Gefühlen. Einerseits erfassen mich Schmerz und Trauer um die unzähligen jüdischen Menschen, die während der Shoah in Galizien unschuldig ermordet wurden. Hier sind Sagnols Beschuldigungen verständlich, das kann man nicht mehr wiedergutmachen – die zeitweilige Kollaboration der Ukrainer mit den deutschen Nazis beweist der Autor aufgrund authentischer Zeugnisse und historischer Dokumente. Andererseits vermisse ich bei ihm auch die kleinste Empathie mit dem Volk, das allein im letzten Jahrhundert durch so furchtbare historische Kataklysmen gehen musste wie den von den Bolschewiki angezündeten grausamen Bürgerkrieg der 1918-1920 Jahre, den durch den Diktator Stalin und seine Schergen organisierten Holodomor (Hungersnot), der nicht nur die gesamte ukrainische Bauernschaft, sondern auch jedes Zeichen des Widerstands für Jahrzehnte getilgt hatte, den Zweiten Weltkrieg, dessen Schauplatz hauptsächlich die Ukraine war und der dem ukrainischen Volk Millionen Opfer gekostet hat, die Katastrophe von Tschernobyl und schließlich den heutigen, von Russland entfesselten verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine, in dem ihre Soldaten mit dem Preis von tausenden und tausenden Leben ganz Europa vor den angeblich von hoher Kultur geprägten wilden russischen Horden verteidigen.
Natürlich war der Zweite Weltkrieg in der Tat ein schwarzes Kapitel in den Beziehungen zwischen den Ukrainern und den Juden, denen es durch historische Umstände beschieden war, immer dicht nebeneinander und miteinander zu leben. Die Ukrainer waren in dieser Hinsicht nicht besser und nicht schlechter als andere europäische Völker – überall in Europa gab es seit Jahrhunderten antisemitische Strömungen, wenn wir an mittelalterliche Vertreibungen der Juden aus Deutschland oder Spanien, an unzählige Pogrome in Russland, an den Fall Dreifuß in Frankreich und besonders an die „Endlösung der jüdischen Frage“ im Dritten Reich denken. Das waren Handlungen, für die wir uns als Europäer heute schämen und um Vergebung bitten müssen. Sicher gab es während des Zweiten Weltkrieges Kollaborateure mit den Deutschen auch unter den Ukrainern in Galizien, und manchmal haben sie sich an der Misshandlung und Ermordung der Juden unter dem deutschen Kommando in organisierter Form wie der SS-Division „Galizien“ oder dem Bataillon „Nachtigall“ beteiligt. Man muss aber dieses verhängnisvolle Bündnis der Ukrainer mit dem Dritten Reich im Kontext der ukrainischen Geschichte sehen. Das Land Ukraine existierte damals nicht als politisches Subjekt, es wurde vom kommunistischen Regime unterjocht, das mit unerhörter Grausamkeit die Bevölkerung der neubesetzten westukrainischen Gebiete drangsalierte, ganze Familien nach Sibirien verschleppte und die des bürgerlichen Nationalismus Verdächtigte – und das waren vor allem ukrainische Intellektuelle – vor Ort erschoss und massakrierte. Um sich vor dem unmenschlichen kommunistischen Regime zu retten, suchten die Ukrainer damals Unterstützung bei den Deutschen. Idealistisch veranlagte junge ukrainische Patrioten, die den deutschen Einheiten wie der SS-Division „Galizien“ oder dem Bataillon „Nachtigall“ beitraten, waren durch die Nazi-Propaganda tückisch betrogen und später selber zu Opfern Hitlers geworden, der ihnen zuerst die Unabhängigkeit ihres Landes versprach, später aber die nationale ukrainische Bewegung zu ersticken versuchte. Der militärische Bund der betrogenen galizischen Ukrainer mit den Nazis war kurzfristig und hat sich als ein tragischer Irrtum herausgestellt. Daher richteten sie sehr bald ihre Waffen nicht nur gegen die Sowjets, sondern auch gegen die Deutschen. Ja, die Figur des Leiters der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) Stepan Bandera ist historisch gesehen recht zwielichtig und stark belastet, er verbrachte aber fast alle Kriegsjahre als Häftling im Berliner Zentralgefängnis, später im KZ-Lager Sachsenhausen. An der Spitze der ukrainischen Militäreinheiten standen in der Regel Nazi-Offiziere. Dass die Ukrainer ihm heute Denkmäler aufstellen oder Straßen nach ihm benennen, rechtfertigt keinesfalls seine antisemitischen Ansichten. Und doch ist er mit der Zeit zum Symbol des Kampfes gegen den in Russland wiedererstandenen Stalinismus geworden, der heute in schlimmsten Formen des verbrecherischen Putin-Regimes erscheint. Schließlich wurde Bandera 1959 von einem NKVD-Agenten in München ermordet. Das tragische Schicksal traf auch andere Mitglieder seiner Familie: zwei seine Brüder hatte man bereits 1942 in Auschwitz umgebracht, sein Vater, ein griechisch-katholischer Priester, wurde später von den Sowjets getötet, zwei Schwestern verschickte man lebenslang nach Sibirien.
Beim Nürnberger Prozess wurde Bandera nicht als Kriegsverbrecher angeklagt, nach dem Krieg lebte er legal, obwohl unter fremdem Namen, in der Bundesrepublik Deutschland. Sein negatives Bild, versehen mit beinahe dämonischen Zügen, prägte vor allem die sowjetische und später die russische Propaganda, die die Begriffe „Bandera“, „Banderowzy“ auch heute als böses politisches Schimpfwort verwendet, um die Ukrainer zu diskreditieren. Die letzten öffentlichen Befragungen zeigen aber, dass seine Popularität als Kämpfer für die Freiheit der Ukraine wächst, und die absolute Mehrheit der Bevölkerung des Landes ihn als nationalen Helden betrachtet. Wie jede historische Gestalt hat er natürlich auch viele Schattenseiten, die ebenfalls berücksichtigt werden müssen. Das letzte Wort bei der Einschätzung seiner Rolle in der ukrainischen Geschichte soll jedoch den Historikern gehören. Momentan hat er eine Lücke ausgefüllt, die kein anderer ihm abstreiten kann, und so ist er heute zum Sinnbild ukrainischer Unabhängigkeit und Banner des Widerstands gegen die russische Aggression geworden.
Bei all seiner sachlichen Genauigkeit und Akribie ist das Buch Marc Sagnols von manchen faktologischen Fehlern nicht frei oder stützt sich manchmal auf veraltete Angaben, die mittlerweile schon überholt sind. So behauptet er bei der Beschreibung der schönsten historischen Synagoge von Żolkiew, dass ihr Dach gestohlen worden sei und das Innere „wie ein Schiff in Seenot schutzlos der Witterung preisgegeben ist und weiter verfällt“ (S. 42), weswegen er sich des Gedankens nicht erwehren kann, dass „die Verschleppung der Restaurierung der Synagoge nichts anderes ist als eine stillschweigende Fortsetzung der „Endlösung“ durch Nichtstun, eine gewaltsame Shoah der Erinnerung“ (S. 45). Im Zusammenhang mit dem von der Berliner Künstlerin Helga von Loewenich und mir betreuten deutsch-ukrainischen Kulturprojekt „Bukowinisch-Galizische Literaturstraße“ haben wir in den letzten Jahren die Stadt mehrmals besucht und die alte Synagoge besichtigt, daher kann ich sagen, dass sie auf der Liste des Kulturerbes der Ukraine steht, inzwischen ein neues Dach bekommen hat und auf diese Weise konserviert wurde, um vor weiterer Zerstörung geschützt zu werden. Am 18. Juni 2021 wurde vor der Synagoge sogar eine Bronzebüste für die gebürtige Żolkiewerin, die Schweizer Schriftstellerin Salcia Landmann, enthüllt, eine hervorragende Kennerin der jiddischen Sprache und Verfasserin der berühmten Anthologie „Der jüdische Witz“[4].
Auch die Information über das bekannte jiddische Lied „Mein stetele Belz“ führt etwas in die Irre und benötigt eine gewisse Korrektur. Es bezieht sich nicht auf das an der polnischen Grenze gelegene galizische Städtchen Bels, wie auf S. 45 behauptet wird, sondern auf die bessarabische Stadt Bălți (ebenfalls Belz ausgesprochen) in der heutigen Republik Moldau, die noch bis Ende der 1930er Jahre eine große jüdische Gemeinde hatte (weit über die Hälfte der Bevölkerung) und die im Laufe des Zweiten Weltkrieges total ausgelöscht wurde.
Im Kapitel über die Bukowina wird der Weg von Lemberg nach Czernowitz beschrieben, der über Stanislau und Kolomea, dann über „die Kleinstadt Zablotow“ (wo übrigens ein kleines Denkmal für Manès Sperber steht), und „das Dorf Snjatyn“ führt (S. 150). In der Tat ist es gerade umgekehrt: Zablotow, das einmal ein jüdisches Schtetl war, das Manès Sperber in seinem Erinnerungsband „Die Wasserträger Gottes“ (der erste Teil seiner Trilogie „All das Vergangene…“) so farbenreich schildert, ist heute ein größeres Dorf, während Snjatyn eine bereits in der Mitte des 12. Jahrhunderts urkundlich erwähnte Stadt mit bewegter, reicher Geschichte istund seit 1448 das Magdeburger Recht besaß.
Etwas verwirrend wirken auch die Angaben über den Geburtsort des Begründers der berühmten chassidischen Rabbinerdynastie von Sadagora, den „Wunderrabbi“ Israel Friedmann, der aus Ruschyn stammt (deswegen wurde er auch als Ruschyner oder Rischyner genannt). Allerdings ist es nicht das heutige Rushany in Weißrussland, wie der Autor meint (S. 176), sondern das kleine Städtchen Ruschyn in der Ukraine, in der Nähe von Berdytschiw. Eben dort residierte er zuerst, bevor er nach einem spektakulären Gerichtsprozess wegen zwei angeblicher Morde, die ihm von den zaristischen Behörden angelastet wurden, 1842 in die damals österreichische Bukowina floh und sich im Marktflecken Sadagora niederließ, wo er eine prächtige Synagoge für etwa 3.000 Beter und einen ansehnlichen Palast für seine vielköpfige Familie bauen ließ. Dort genoss er wegen seiner Weisheit und prophetischer Gabe beinahe königliche Ehren, wovon Karl Emil Franzos, Leopold Sacher-Masoch, Martin Buber, Klara Blum, Rose Ausländer und andere Autoren aus Galizien und der Bukowina in ihren Werken erzählen.
Auch das Czernowitzer Geburtshaus von Paul Celan mit der Gedenktafel des Dichters, das auf einem Foto im Buch abgebildet ist (S. 159), stimmt nicht mehr, denn es hat sich inzwischen als das „falsche“ Geburtshaus erwiesen, sodass die Gedenktafel im Jahre 2020, zu Celans 100. Geburtstag, feierlich an das nächste Haus übertragen wurde. Genauso ist die Behauptung von der einzigen noch als solche genutzten kleinen Synagoge in der Lukian-Kobelitza-Straße von Czernowitz (S. 173) bereits überholt, denn seit Jahren hat die Stadt noch eine größere, musterhaft restaurierte Synagoge mit einer koscheren Küche in der Sadowski-Straße, wo ein vor Jahren aus Amerika gekommener Rabbiner Gottesdienste abhält. Selbst der Davidstern über der mächtigen Kuppel der Trauerhalle auf dem jüdischen Friedhof steht nicht mehr schief (S. 174), denn das Gebäude wurde vor einigen Jahren neu überdeckt und schön saniert, dort soll ein jüdisches Geschichte- und Kulturzentrum entstehen.
Das Buch Marc Sagnols ist in seiner unverhüllten Tristesse eine Art Kaddisch für das ausgelöschte galizische Judentum. Man empfindet als Ukrainer ein kaum unterdrückbares Schamgefühl, nachdem man die letzte Seite dieser Reisebilder gelesen hat. Es gibt aber in der letzten Zeit auch einige hoffnungsvolle Zeichen, die darauf hinweisen, dass die zwischen den Juden und den Ukrainern im Laufe der Jahrhunderte entstandenen Klüfte sich allmählich zu schließen beginnen. Dazu ermutigen die Aktivitäten des Ukrainischen Judaica-Instituts in Kiew, das bereits in den ersten Jahren ukrainischer Unabhängigkeit gegründet wurde und seitdem eine große aufklärerische Arbeit anada, oder des Kiewer „Zentrums für Erforschung der Geschichte und Kultur des osteuropäischen Judentums“, das eine enorme forscherische, kulturelle und verlegerische Tätigkeit entfaltet hat und im engen Kontakt mit dem Verlag „Duch i Litera“ hunderte von Büchern zur jüdischen Thematik publizierte. Dazu ermutigen die Initiativen der 2008 gegründeten internationalen Stiftung „Ukrainian-Jewish Encounter“, mit ihren Vertretungen in Kanada und der Ukraine, die seitdem zahlreiche Ausstellungen und Tagungen zu den Problemen der ukrainisch-jüdischen Beziehungen in mehreren Ländern organisierte, oder das bereits oben erwähnte deutsch-ukrainische Kulturprojekt „Bukowinisch-Galizische Literaturstraße“, in dessen Rahmen in den letzten Jahren 13 Denkmäler für deutsch-jüdische und hebräische Schriftsteller in verschiedenen Orten Galiziens und der Bukowina enthüllt wurden. Man kann heute in der Ukraine keine antisemitischen Ausschreitungen vorfinden, die in manchen westeuropäischen Ländern ihre abstoßende Fratze wieder zeigen. Und die heutige Generation der Ukrainer ist fest entschlossen, diesen gefährlichen Tendenzen mit unablässiger Wachsamkeit entgegenzutreten, um jeden Versuch der Wiederholung der schrecklichen Vergangenheit im Keim zu ersticken.

 

Marc Sagnol. Galizien und Lodomerien. Eine Spurensuche / Aus dem Französischen von Andreas Fliedner. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2021, 238 S. Euro 23,27

Anmerkungen

  1. ^Martin Pollack. Nach Galizien: Von Chassiden, Huzulen, Polen und Ruthenen: eine imaginäre Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina, Wien: Christian Brandstätter Verlag 1984.
  2. ^Verena Dohrn. Reise nach Galizien: Grenzlandschaften des alten Europa. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1991.
  3. ^Zitat auf dem Klappentext von Sagnols Buch.
  4. ^Siehe Helga von Loewenich / Petro Rychlo. Bukowinisch-Galizische Literaturstraße. Dokumentation zu einem deutsch-ukrainischen Kulturprojekt. Czernowitz: Verlagshaus XXI, 2022, S. 236-241.