Theodor Kramer Gesellschaft

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Leander Kaiser
Das Waschmittel Modernität
Auszug aus der Einleitung zu "Eine andre Moderne?"

Ein guter Teil des beim Lesen wohl spürbaren Unbehagens, das  ich partiell mit der „modernen Kunst“ habe, verdankt sich der  ideologischen Rolle, die sie speziell in Österreich und Deutschland  nach dem Zweiten Weltkrieg gespielt hat und auch heute  noch spielt. Ich muss diesen Punkt etwas breiter ausführen,  weil er in den abgedruckten Texten sonst wenig behandelt wird.
In diesen Ländern sei die Entwicklung der „Modernen Kunst“  durch den Nationalsozialismus unterbrochen und unterdrückt  worden. Man müsse nun einen neuen Anfang machen und die  internationale Entwicklung in den bildenden Künsten wieder  einholen, hinter der man zurückgeblieben sei (was allerdings in  Wirklichkeit in Österreich schon in den 20er und 30er Jahren  der Fall gewesen ist). In Österreich orientierten sich die Künstler  und Künstlerinnen dabei eher an der „klassischen“ Vorkriegsmoderne mit dem Zentrum Paris, in Deutschland an der  abstrakten Malerei der USA, was vom CIA nach Kräften unterstützt  wurde und der Abgrenzung sowohl von der Nazikunst wie  vom sozialistischen Realismus der Sowjetunion dienlich war. Die „Moderne Kunst“ galt, da vom Naziregime unterdrückt, als  eine verfolgte Unschuld, die durch die Wirren und Abgründe  des 20. Jahrhunderts trockenen Fußes hindurchgekommen war,  mit ihr gelte es nun fortzufahren als Überwindung des „kleinbürgerlichen  Kitsches“ und des hohlen Klassizismus der Nazizeit.
Ich erörtere hier nicht, wie weit dieser Nimbus einer antifaschistischen  Stellungnahme der Künstlerinnen und Künstler  entsprach; es gab unter ihnen genug Parteigänger des Faschismus (in Italien) und auch in Deutschland und Österreich einige Sympathisanten des Nationalsozialismus. Jedenfalls waren sie  alle in dem Moment des Zusammenbruchs und neuen Anfangs  „moderne Künstler“ ohne Wenn und Aber. Ein großartiger Verdrängungs- und Substitutionsprozess kam in Gang. Mit der Nazikunst wurde der Nationalsozialismus  gleich selbst verdrängt; der „neue Anfang“ brauchte sich nicht  um die unmittelbar vorausliegende historische Katastrophe, um Massenmord, imperialistischen Angriffskrieg, Vertreibung und Shoah zu bekümmern. Verdrängt nicht nur im psychischen  Sinn, sondern durch Ausschluss von nahezu allen Wirkungsmöglichkeiten  wurde in einem Aufwaschen auch die Kunst des  Widerstands und des Exils. Bedenkt man, dass führende Proponenten  der Nachkriegskunst, ich nenne z.B. Herbert Boeckl  und Max Weiler, Mitglieder der NSDAP gewesen waren und  als solche tatsächlich „trockenen Fußes“ durch die Nazizeit gekommen  waren, versteht man, dass die Exkulpierung durch die  „Moderne Kunst“ auch im Eigeninteresse wichtiger Künstler  und Kunstfunktionäre gelegen war. Sich selbst nicht als zumindest teilweise Mitschuldigen an den  Verbrechen des Nationalsozialismus, vielmehr eher als Opfer  sowohl der Vergewaltigung durch den „Führer“ wie der Folgen  des Krieges, der Bomben und des Elends nach der Niederlage zu interpretieren, war in der vom Antisemitismus durchseuchten, geistig und menschlich verarmten Zombie-Gesellschaft des  Nachkriegs Common Sense. Die Künstler und Künstlerinnen  verhielten sich da nicht anders als die große Mehrheit der Bevölkerung.  Bewusst antifaschistische Positionen wurden nur  von einer kleinen politischen und kulturellen Minderheit vertreten:  den Kommunisten, einem Teil der Sozialdemokratie, einigen  Schriftstellern, von Malern des „fantastischen Realismus“  in ihrer Frühphase, von Alfred Hrdlicka und seinem Umkreis.
Der Modernismus als Antitoxin des Nazigifts funktioniert bis  heute, also auch nachdem es üblich geworden ist, die hereditäre  Verstrickung in den Schuldzusammenhang des Nationalsozialismus  anzuerkennen, sich für die Taten der Väter und Großväter  zu schämen und sie stellvertretend zu bereuen. Ein aufwendiges  Engagement für die „Moderne Kunst“ wie etwa die Stiftung von  Privatmuseen wird als Wiedergutmachung verstanden. Friedrich  Christian Flick, Enkel und Erbe seines Großvaters, der  wegen seiner führenden Rolle in der Rüstungsindustrie Nazideutschlands  als Kriegsverbrecher verurteilt worden war, hat das  geradezu klassisch anlässlich der Stiftung seines Privatmuseums  formuliert: es ginge darum, „der dunklen Seite ihrer Familiengeschichte  [der Flicks] eine helle hinzuzufügen“. Eine ähnliche  Vorgeschichte hatte das Privatmuseum von Julia Stoschek, deren  Großvater Max Brose sein Vermögen durch die Ausbeutung von  von der SS bereitgestellten Zwangsarbeitern vermehrt hatte. Das  Privatmuseum, das Heidi Horten im Juni 2022 kurz vor ihrem  Tod in Wien eröffnet hat, wurde aus einem Vermögen finanziert,  das durch die Arisierung von Kaufhäusern in jüdischem  Besitz begründet worden war. Die schamlose und durch Wertsteigerung  der eigenen Kunstsammlung letztlich eigennützige  Zurschaustellung von Reichtum wurde öffentlich immer wieder  als begrüßenswerte kompensatorische Tat gewürdigt.
Wozu mir  noch als besonderes Schmankerl das Beispiel eines Kunsthändlers  einfällt, Mitglied der NSDAP und am Hitlerischen Raubkunstprogramm  beteiligt, dem die deutsche Kunstzeitschrift  ART vor wenigen Jahren attestierte, sein (verbrecherisches)  Treiben durch sein gleichzeitiges Engagement für die „Moderne  Kunst“ gutgemacht zu haben.
Man könnte mit diesem Argument  an manchen Gauleitern  und andren Funktionären des NS-Regimes  auch noch das Gute finden, dass sie bei sich zuhause expressionistische  und sogar abstrakte Bilder hängen hatten. In all dem nähert sich die Funktion der Modernität einem moralischen  Waschmittel.
Hier höre ich den mehr oder weniger  lauten Einwand, dass die Werke unabhängig von Funktion und  Kontext ästhetischen Wert haben und als autonome Resultate  der künstlerischen Gestaltung gewürdigt werden müssen.  Das ist so weit richtig, als sie auch in ihrer Einzelheit rezipiert  werden können – und wenn sie die Kraft haben, ihre Präsenz  vom Kontext abzuheben und aus den Werken selbst begründbare  Interpretationen zu ermöglichen. Doch selbst bedeutende  Kunstwerke können schwer zur Geltung kommen, wenn sie  zum Beispiel als Illustrationsmaterial für die Ideen eines Kuratorenteams  in einer ausufernden Themenausstellung herhalten  müssen und zum Teil eines Erlebnis-Parcours werden, bei dem  die Einlassung auf einzelne  Werke gar nicht beabsichtigt ist.  In den protzigen Museumsbauten der letzten Zeit triumphiert  die gewaltige Kubatur und ihre beabsichtigte Wirkung als  Erlebnisraum über die Kunstwerke; sie werden zum ephemeren  Inventar…

Leander Kaiser: Eine andre Moderne? Wien: Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2023. 228 S. Euro 26,-